Kommentar: 'Im Büro sind alle fleißig, im Homeoffice faulenzen sie' – von Fluch, Segen und Vorurteilen der neuen Fernarbeit
Das Thema Home-Office bleibt weiter auf der Tagesordnung. Einerseits steht es für eine unerwartete IT-Revolution, die verteiltes Arbeiten mit kollaborativen Tools populär gemacht hat. Andererseits hegen viele Unternehmen und auch Arbeitnehmer weiterhin Bedenken gegenüber virtueller Büroarbeit, und manche wollen sogar wieder Präsenzpflicht.
Von Stefan Pfeiffer*
Der treibende Faktor beim Thema Home-Office ist die Erkenntnis, dass durch die Distanz weniger Infektionen entstehen als am Arbeitsplatz und auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Entsprechend hat inzwischen die Bundesregierung auch gesetzgeberisch reagiert und die neue „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung“ erlassen. Experten gehen davon aus, dass sich mit mehr Homeoffice die Zahl der Infektionen halbieren kann. Doch im Gegensatz zum ersten Lockdown sind inzwischen viele Unternehmen zurückhaltender. Während im April 2020 noch 27 Prozent von daheim arbeiteten, waren es im November 2020 nur noch 14 Prozent.
„Firmen umgehen Verordnungen“
Auffällig ist noch immer der Widerstand, mit dem sich der Homeoffice-Gedanke vielerorts konfrontiert sieht. Nur zu gerne wird über Marginalien wie die korrekte Tischhöhe diskutiert, doch viel ernster, offensichtlich gibt es in einigen Unternehmen massiven Widerstand. Firmen umgehen Verordnung – Wer ins Homeoffice will, wird gefeuert, titelt Oliver Heinz auf ZDF.de. Es sind wohl keine Einzelfälle. Laura Sophie Dornheim von den Grünen hat über 150 Fälle von Unternehmen gesammelt und dokumentiert. Weitere Fälle können beispielsweise via Twitter übermittelt werden.
Man diskutiert über Tischhöhe und Datenschutz
Der Widerstand ist groß und viele Arbeitgeber wehren sich. Man habe geliefert und überall dort Homeoffice ermöglicht, wo es die Arbeitsaufgabe zulasse, so der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände laut FAZ. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Das findet auch Katharina Borchert, frühere Chief Innovation Officer bei der Mozilla Foundation, mit klaren, deutlichen Worten auf Spiegel Online. Sie nimmt einige Punkte aufs Korn, bei denen auch ich immer den Kopf schüttele. Wie kann man angesichts der Corona-Pandemie über Tischhöhe diskutieren oder in den Raum stellen, Datenschutz sei das Problem, ein Aspekt der sowohl technisch, wie auch organisatorisch gelöst werden kann. Mit solchen Pseudoauseinandersetzungen wird immer wieder der Wunsch kaschiert, einfach kontrollieren und beaufsichtigen zu wollen.
Zeitverschwendung im Homeoffice?
Immer wieder werden solche und andere Bedenken geäußert. Natürlich stellt das Arbeiten im Homeoffice besondere Herausforderungen. Wenn aber in einem Beitrag der Wirtschaftswoche unter dem Titel Wo wir im Homeoffice unsere Zeit verschwenden Dinge genannt werden, die wenig mit Homeoffice, oft generell mit Arbeitsorganisation zu tun haben, ist das merk- und fragwürdig. „Arbeitnehmer könnten jede Woche 6 Stunden und 5 Minuten sparen, wenn die Abläufe im Unternehmen optimiert würden“, so der Autor der Wiwo.
Oft werden zu viele Tools benutzt
Stimmt, gilt aber generell, egal wo man arbeitet. Es würden dreieinhalb Stunden pro Woche für unnötige Besprechungen draufgehen. Stimmt, aber diese unnötigen Besprechungen gab es schon vorher und ich bin mir nicht so sicher, ob sie durch Homeoffice so viel mehr geworden sind. Oft werden zu viele Tools, zu viele Softwareprogramme benutzt, die sich teilweise auch noch funktional überlappen. Zudem ist oft nicht klar, welche Inhalte man wo wie ablegt und was man wofür benutzt. Stimmt, aber auch das ist ein Problem, das schon vor der Pandemie existierte.
Arbeiten wirklich alle im Büro effizient?
Meist gewinnt man den Eindruck, dass Dinge künstlich aufgeführt werden, nur um Homeoffice schlecht zu reden. Auch habe ich in keinem Beitrag der Kritiker von Homeoffice gesehen, dass die Verhältnisse im Büroalltag kritisiert werden. Dort scheint alles rund zu laufen, wenn man das glauben mag. Arbeiten aber wirklich alle, die im Büro sind, höchst effizient? Oder werden Mitarbeiter nicht auch dort mal abgelenkt? Verbringen sie nicht auch dort Zeit in unnötigen Meetings und mit bürokratischen Dingen, die nicht sein sollten und müssten. Werden sie nicht auch dort, vielleicht gerade dort immer wieder abgelenkt und verlieren den Faden bei der Erledigung ihrer Aufgaben. Die heile Bürowelt existiert ebenso wenig wie heile Home-Office-Welt.
In jeder Organisation gibt es ortsunabhängig zusammenarbeitende Teams
Auch finde ich die Aussage, dass man im Home-Office beziehungsweise in der Onlinezusammenarbeit nicht kreativ, agil und produktiv sein kann, hanebüchen. In jeder großen Organisation, bei vielen Mittelständlern gibt es ortsunabhängig zusammenarbeitende Teams, ob in Deutschland, Europa oder weltweit verteilt. Katharina Borchert, die für die Mozilla Foundation arbeitete, kann das sicher bestätigen. Sind die alle per se unproduktiv und nicht kreativ? Das ist absoluter Mumpitz, um es frei nach Reich-Ranicki zu schreiben.
Das Kind nicht mit dem Bade ausschütten
Um es nochmals klar zu schreiben. Arbeiten im Homeoffice ist nicht immer das Paradies und alles läuft dort rund. Es kann viel verbessert werden, in der Kommunikation, in der Art der Zusammenarbeit, in der Weise wie geführt wird und wie sich Führungskräfte und Mitarbeiter verhalten, miteinander möglichst empathisch umgehen. Das soll gar nicht in Abrede gestellt werden, doch schütten wir das Kind nicht mit dem Bade aus. In diesen Zeiten sollten wir wo immer möglich Homeoffice praktizieren. Es ist ein Muss, um Corona-Infektionen und -Tote zu verhindern.
Auch Umweltschutz, Zeitersparnis und Work-Life-Balance zählen
Doch auch nach der Pandemie ist es wichtig, dass wir denen, die es wollen und auch von der persönlichen Infrastruktur können, weiter Homeoffice wollen und anbieten. Es gibt viele gute Gründe dafür, die schon oft genannt wurden und werden, vom Umweltschutz über verlorene Lebenszeit im Pendelverkehr bis zu einer besseren Work-Life-Balance. Und diejenigen, die ins Büro wollen, sollen das auch tun können. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich sehr oft hybride Modelle durchsetzen werden. Man arbeitet einige Stunden und Tage im Büro, die anderen daheim oder mobil. Das sollte die neue reale Arbeitswelt werden. Daran sollten sich die ewig Gestrigen und Controlettis gewöhnen. Und wenn es dafür ein Gesetz braucht, dann ist es halt so.
* Disclaimer: Mir ist sehr wohl bewusst, dass in vielen Berufen kein Homeoffice möglich ist. Mir ist auch sehr bewusst, dass es genug Fälle gibt, in denen die persönlichen Umstände es nicht wirklich komfortabel möglich machen, von daheim produktiv und zufrieden zu arbeiten. Mir ist auch klar, dass viele gerne ins Büro gehen, weil sie sich vielleicht daheim nicht so gut selbst disziplinieren können oder aber den direkten Kontakt mit Kollegen wollen und brauchen. Und das ist alles ok und akzeptiert. Nur warum sollten diejenigen, die daheim arbeiten wollen und können, es nicht tun dürfen? Das muss mir mal jemand erklären.
*Stefan Pfeiffer ist Blogger, IT-Marketingprofi, New-Work-Mitdenker und hat früher als Journalist gearbeitet